Fleur Woess lief den San Francisco Marathon
Marathonlaufen bedeutet für mich, das Herz einer Stadt kennenlernen. Darum laufe ich lieber in London, in Berlin, und jetzt in San Francisco.
Trainiert für den Marathon habe ich – wie immer – nicht. Es muß meine jetzige Kondition reichen, aufgebaut durch meinen täglichen Morgenlauf.
Sechs Uhr früh am Sonntag, dem 11. Juli ist es, als wir von den Bergen des San Marin County im lockeren Verkehr hinunter auf die Golden Gate Bridge fahren. Die Sonne geht auf und ihre Strahlen gleissen auf dem Meer, die Skyline San Franciscos liegt noch im Schatten, die Streben und Pfeiler der Brücke zeigen schon ihr markantes Rot.
Start ist um sieben Uhr im Golden Gate Park, nicht weit von der Brücke. Ein Park, aussen rechtwinkelig abgezirkelt wie so vieles hier in den USA, innen aber ein duftendes Redwood- und Eukalyptus-Paradies. Klein ist der Marathon, sympathisch und ein bißchen handgestrickt, nicht allzu perfekt organisiert. Die Begeisterung der Menschen ist hoch. Viele junge Läufer und viele Läuferinnen, fast gleich viele Frauen wie Männer, das ist für mich ungewöhnlich. Vorwiegend „Lustläufer und Lustläuferinnen“, wie man unschwer an ihrem Äusseren ablesen kann. Wir können auch beruhigt in Muße laufen. Für die 26,1 Meilen haben wir bis zu 7 Stunden Zeit. Also keine Panik, dass einem das Schlussauto auf die Fersen fährt.
Wir traben im Golden Gate Park los, immer wieder treffe ich auf lachende Gruppen in lila Leiberln. Das sind jene, die für den Leukämiefonds laufen und auf diese Weise Fundraising für die gute Sache machen. Sie ermuntern einander gegenseitig, viele laufen sicherlich zum ersten Mal Marathon und einige täten sich mit einigen Kilo weniger Speck leichter. Trotzdem, sie sind die lustigsten.
Die ersten Meilen im Park erlebe ich intensiv. Die Redwood-Bäume riechen würzig, ich sehe zwischen den gewaltigen Stämmen immer wieder auf die Stadt hinunter, es ist eine weiße Stadt. Die Sonne legt das Morgenlicht auf die hellen Häuser, noch ist es ein mildes Licht. Bald geht es unter der Golden Gate Bridge entlang des Meeres an Lagerhäusern vorbei. An jeder Meile steht jemand, der genau die Zeit stoppt und sie vor sich her sagt, sodaß die zeitbewußten Läufer wissen, ob sie ihren Zeitplan einhalten.
Nun laufen wir auf Straßen, der fischige Geruch nimmt zu. Die Fische sind wohl schon gefangen, aber die Geschäfte haben noch nicht offen. Fisherman´s Wharf, Pier 39, noch verlassen. Erst in zwei drei Stunden drängen sich hier die Touristen mit den Straßengauklern dazwischen. Erst dann kann man sich mit grünhaarigen Punks ablichten lassen, die dem Photographierenden den Mittelfinger zeigen – gegen Entgelt natürlich. Jetzt ist hier noch Frieden.
Wir laufen noch die Uferstraßen entlang bis zur zweistöckigen Oakland-Bridge, danach biegen wir in die Stadt ein. In DIE Stadt. „Die Straßen von San Francisco“ hieß vor langer Zeit eine Krimiserie, in der die Cops mit ihren schaukelnden Ami-Schlitten über unglaublich steile Straßen-Hügel schlittern. Man hätte damals an einen Filmtrick glauben können. Aber so sind sie wirklich: Unglaublich steil, fast meine ich manchmal, besser wäre es, mit einer Kletterausrüstung unterwegs zu sein. Die meisten Läufer müssen gehen, vermutlich, die, die nicht hier zuhause sind.
Die Steigungen lohnen sich aber! Der Blick von oben in die Schluchten der Wolkenkratzer des Financial District ist atemberaubend. Der Morgenverkehr beginnt schon, aber noch gehören die Straßen von San Francisco uns, den Läufern. Bergab geht es dann durch die Chinatown. Ein bis in den letzten Winkel vollgeräumtes chinesisches Geschäft neben dem anderen. Sogar eine Pagode sehe ich da. Was steht darauf? „Bank of Canton“. Und später noch andere: Die vermeintlichen Tempeldächer – alles Bankportale.
Da komme ich ins Sinnieren. Die Tempel von heute, sie haben nichts mit Religion zu tun, sondern mit Geld. Wie heißt doch das Staatsmotto von Kalifornien? „Eureka!“. „Wie bemerkenswert“ dachte ich, als ich das zum ersten Mal las. „Heureka“ rief doch der Grieche- war es Archimedes? -, als er die Entdeckung gemacht hatte, wie er die Masse eines Gegenstandes durch Eintauchen ins Wasser ausrechnen konnte. Er sprang damals aus seinem Badewasser und lief nackend die Straße entlang: „Heureka, ich habe es gefunden“, soll er dabei gerufen haben. So will es die Legende. „Wie schön,“ dachte ich, „daß die Kalifornier einen Ausruf, der an die geistigen Wurzeln Europas erinnerte, zu ihrem Staatsmotto erheben“. Irrtum. Mit griechisch hat es schon zu tun. Aber Eureka riefen nicht die Philosophen, sondern die Goldgräber des vorigen Jahrhunderts, wenn sie Gold gefunden hatten – oder wenigstens hat es ein humanistisch gebildeter Wild-Wild-West-Pionier später so transkribiert.
Gold, nicht Erkenntnis! Was für ein bemerkenswerter Unterschied. Geld spielt hier in den Vereinigten Staaten eine ganz entschieden andere Rolle als im diesbezüglich vielleicht etwas verträumten Europa. Auch heute noch. Oder vielleicht mehr als je zuvor. Und auch hier in Chinatown.
Dies ging mir durch den Kopf, als ich an der Bank-Pagode vorbeilief, weiter durch lateinamerikanische Viertel, kubanische, japanische und vorbei an seltsam aus einer längst vergangen geglaubten Hippie-Zeit übriggebliebene Flower-Power-Läden mit Marihuana-Pfeifen und mühevoll ausgewaschenen, zerfransten Batik-Leiberln. Man kommt ja, das wissen alle, die nicht gegen die Zeit laufen, ein wenig ins Grübeln, wenn man läuft. Und das ist angenehm so. Vielleicht tut man´s ja deswegen?
Die erste Hälfte des Marathons ist fulminant. Alle touristisch betrachtet wichtigen Sightseeing-Punkte ziehen in angemessenem Tempo vorbei. Danach werden die Straßen von San Francisco scheinbar immer steiler. Ist es wahr, oder kommt es mir nur so vor? Kaum habe ich einen Berg erklommen, tut sich darüber noch einer auf. Zwischen den Läufern sehe ich auch Walker. Einen sehe ich immer wieder, er ist offenbar genauso schnell wie ich. Die Sonne sticht schon. Es ist der heißeste Tag seit langem, kein Morgennebel wie sonst, der die Strahlen etwas abhielte. Der Golden Gate Park, der auch das Ziel ist, rückt schon in Sichtweite. Wir laufen durch, ich glaube mich schon nahe am Ziel. Die Musikband im Ziel ist schon laut – a laufen wir wieder aus dem Park hinaus an die Küste. Nicht leicht zu schlucken, aber wenigstens geht es bergab.
Es ist eine wunderschöne Küste, mit Sanddünen, von Surfer und andere Meereshungrigen bevölkert. Für uns müde Läufer und für mich, der das rechte Kniegelenk schrecklich weh tut, aber eine Tortur. Zwei Meilen schnurgerade in die eine Richtung hin und die gleiche Strecke zwei Meilen zurück. Nicht ein winziges Fleckchen Schatten. Da fangen schon viele an, zu wanken. Die Helfer, die das Wasser ausgeben, feuern uns an und geben uns den Mut, den letzten Berg wieder hinauf in den Park mit letztem Schwung zu laufen. Die Menschen sind hier in Amerika unglaublich freundlich. Das überrascht uns Europäer immer wieder. Und die, die freiwillig bei einem Marathon helfen, sind die Besten. Ich schwör´s.
Die Zeit ist mir jetzt schon egal. Ich bin stolz, wieder einmal einen Marathon zu schaffen. Hinauf in den Golden Gate Park ist es wieder ordentlich steil, aber die Redwoods duften, und ab und zu erwische ich ein Stückchen Schatten. Und dann das Ziel. Lautsprecher. Lärm. Applaus. Für wen? Für MICH und für niemanden sonst! Die alle haben stundenlang nur auf MICH gewartet! ICH bin die Siegerin!
Eine glückliche Stimmung. Satte, müde Zufriedenheit. Und jetzt, im Nachhinein ist es wie immer. Eine wunderschöne Erinnerung, voller intensiver Bilder und einem kleinen Nachgedanken: Für das nächste Mal sollte ich wirklich trainieren …